- Die angeborenen Reaktionen des Körpers auf Bedrohungen sind essentiell für die Entstehung von Angst. Die enge Verzahnung von Gehirn und Körper ist entscheidend für unsere Wahrnehmungen und Gefühle. Der Vagusnerv spielt eine zentrale Rolle bei der Koordination von körperlichen Funktionen und emotionalen Reaktionen. Die elektrische Stimulation des Vagusnervs wird aktuell intensiv zur Behandlung neurologischer und psychologischer Störungen erforscht. Pseudowissenschaftliche Ansätze wie die polyvagale Therapie bieten kaum bis keine belegten Vorteile.
In der tiefen Dunkelheit der Nacht durchqueren Sie menschenleere Straßen auf der Suche nach Ihrem geparkten Auto, als plötzlich Schritte hinter Ihnen lauter werden. Ihr Herz rast, der Blutdruck schießt in die Höhe. Gänsehaut überzieht Ihre Arme, Schweiß perlt auf Ihren Handflächen. Ihr Magen verkrampft sich, die Muskeln spannen sich an, bereit zur Flucht oder zum Kampf.
Nun stellen Sie sich die gleiche Szene vor, jedoch ohne jegliche der angeborenen Reaktionen des Körpers auf eine äußere Bedrohung. Würden Sie immer noch Angst empfinden? Solche Erfahrungen offenbaren die enge Verzahnung von Gehirn und Körper bei der Entstehung des Geistes – jener Collage aus Gedanken, Wahrnehmungen, Gefühlen und Persönlichkeiten, die uns alle einzigartig machen.
Die Rolle des Vagusnervs
Die Fähigkeiten des Gehirns allein sind erstaunlich. Das herausragendste Organ verleiht den meisten Menschen eine eindrucksvolle sensorische Wahrnehmung der Welt. Es kann Erinnerungen bewahren, uns ermöglichen zu lernen und zu sprechen, Emotionen und Bewusstsein erzeugen. Doch diejenigen, die versuchen könnten, ihren Geist durch das Hochladen seiner Daten in einen Computer zu bewahren, übersehen einen entscheidenden Punkt: Der Körper ist unerlässlich für den Geist.
Wie wird diese wesentliche Verbindung zwischen Gehirn und Körper orchestriert? Die Antwort liegt in dem ungewöhnlichen Vagusnerv. Dieser längste Nerv im Körper schlängelt sich vom Gehirn durch Kopf und Rumpf, erteilt unseren Organen Befehle und empfängt Empfindungen von ihnen. Ein Großteil der verwirrenden Fülle an Funktionen, die er reguliert – wie Stimmung, Lernen, sexuelle Erregung und Angst – sind automatisch und erfolgen ohne bewusste Kontrolle.
Die Forschung zur Vagusnerv-Stimulation
Die aktuell intensivste Forschung befasst sich mit der elektrischen Stimulation dieses Nervs zur Verbesserung neurologischer und psychologischer Störungen, darunter Migräne, Tinnitus, Adipositas, Schmerz, Drogenabhängigkeit und mehr. Wie könnte die Stimulation eines einzigen Nervs solch weitreichende kognitive und psychologische Vorteile haben? Dafür müssen wir den Vagusnerv selbst verstehen.
Der Vagusnerv entspringt aus vier Neuronenclustern in der Medulla des Gehirns, wo der Hirnstamm an das Rückenmark angrenzt. Im Gegensatz zu den meisten Nerven, die direkt vom Rückenmark abzweigen, verlässt der Vagusnerv das Gehirn durch spezielle Löcher im Schädel und verzweigt sich in fast jeden Bereich von Kopf und Rumpf. Er strahlt auch von zwei großen Neuronenclustern, sogenannten Ganglien, aus, die an kritischen Stellen im Körper positioniert sind. Zum Beispiel klammert sich ein großer Cluster von Vagusneuronen wie eine Ranke an die Halsschlagader.
Die Länge und umfassende Natur des Vagusnervs erlauben es ihm, solch diverse körperliche Funktionen in einer Weise zu koordinieren, wie es unabhängige Nerven nicht könnten. Seine Hauptfunktion besteht darin, die Antworten des Körpers zu dämpfen. Nach einer Angstepisode müssen die kraftvollen, lebensrettenden Bedrohungsreaktionen des Körpers beendet werden, um den Ruhezustand von Herzschlag, Atmung und Blutfluss wiederherzustellen. Aber der Vagusnerv kann auch als Beschleuniger wirken.
Der Vagusnerv als therapeutisches Ziel
Die beruhigende Wirkung des Vagusnervs bildet die biologische Grundlage für neue Therapien, die darauf abzielen, den Nerv zu stimulieren, um Anfälle zu beruhigen, Angstzustände zu lindern und Migräneattacken zu stoppen. Diese Methode kann ohne neurochirurgische Eingriffe durchgeführt werden. Man kann die Nervenfasern durch eine milde elektrische Impulse stimulieren, indem Elektrodenspangen chirurgisch in die Brust eingepflanzt oder einfach am Ohrläppchen befestigt werden.
Allerdings gibt es auf dieser Grundlage auch pseudowissenschaftliche Ansätze wie die sogenannte polyvagale Therapie, die behauptet, durch körperliche oder Atemübungen den Vagusnerv „zurückzusetzen“. Dafür gibt es jedoch kaum bis keine Beweise, dass diese beliebten Heilmittel mehr als bloße Placebos sind.
Der Vagusnerv muss keine Wunderwaffe sein, um bemerkenswert zu sein—seine eigene Bedeutung ist schon beeindruckend genug. Ohne das umfassende Gebiet und die starke Wirkung des längsten Nervs im Körper wäre die entscheidende, hochkoordinierte Verbindung zwischen Gehirn und Körper unterbrochen, und viele unserer Kernerfahrungen und -emotionen—Angst, Freude, schnelle Reaktion auf Bedrohungen, die beruhigende Nachwirkung—würden scheitern.