- Die Hightechbionik gibt es seit den 1970er-Jahren.
- Bionik ist nie Imitation, sondern immer ein Neuerfinden, inspiriert von der Natur.
- Bionik ist nie mit Nachhaltigkeit gleichzusetzen.
- Roboter ohne harte metallische Gliedmaßen verwenden pneumatische Bewegungen.
- Pneumatische Roboter funktionieren auch in Gebieten mit hoher elektromagnetischer Strahlung.
Die ersten Erfinder waren von nichts als Flora und Fauna umgeben – nicht unwahrscheinlich also, dass die ersten Speerspitzen von Raubtierzähnen, die ersten Angelhaken von Vogelklauen inspiriert waren. Wenn das stimmt, betreiben wir die Wissenschaft, technische Probleme nach dem Vorbild biologischer Funktionen zu lösen, schon seit Hunderttausenden Jahren. Die sogenannte Hightechbionik, also das Übertragen von natürlichen Vorbildern in die Technik, gibt es seit den 1970er-Jahren. Ihr verdanken wir den Klettverschluss, dessen Funktionsweise sich der Schweizer Forscher George de Mestral von der Klettfrucht abschaute, oder moderne Autoreifen, deren Profil dem von Katzenpfoten ähnelt. Auch schmutzabweisende Oberflächen haben ein natürliches Vorbild: die Lotuspflanze. Trifft Wasser auf die Blätter, perlt es ab und spült gleichzeitig den Schmutz mit fort. Die Blätter bleiben auf diese Weise stets trocken und sauber.
Kiefernzapfen als Inspiration für Fassadenverschattung
Heute ist Bionik gefragter denn je. „Sie rückt wegen des großen Interesses an Nachhaltigkeit wieder mehr in den Vordergrund“, sagt Thomas Speck. Er forscht seit mehr als 20 Jahren im Bereich der Bionik. Der Biophysiker ist Professor an der Universität Freiburg und leitet den dortigen botanischen Garten. Das Beobachten von Flora und Fauna ist ein Grundprinzip seiner Arbeit: „Wir sehen etwas in der Natur, das wir spannend finden, dann versuchen wir, die Funktionen und die zugrunde liegenden Strukturen zu verstehen, und dann suchen wir technologische Anwendungen dafür.“ Bottom‑up-Approach nennt sich dieser Prozess in der Fachsprache. Er beschreibt eine Herangehensweise von unten nach oben. Ein Beispiel dafür liefern Kiefernzapfen.
Ein vom Baum gefallener Kiefernzapfen öffnet sich nur dann, wenn es draußen trocken genug ist, damit der Wind seine Samen so weit wie möglich tragen kann. An seinen Schuppen sitzen Zellsysteme, die bei Feuchtigkeit anschwellen und den Zapfen zudrücken. Bei Trockenheit schrumpfen sie und ziehen die Schuppen auf. Specks Team hat gemeinsam mit Architekten aus Stuttgart eine Fassadenverschattung entworfen, die dieses Prinzip umkehrt und als Sonnenschutz nutzt: Bei hoher Sonneneinstrahlung verschließt sie sich, bei höherer Luftfeuchtigkeit, also bei bedeckterem Wetter, gibt sie die Fenster wieder frei. „Eine völlig autonome Fensterverschattung“, nennt Speck das – eine Art wettergesteuerte Jalousie, die uns in den kommenden Jahren helfen könnte, den Folgen des Klimawandels zu begegnen.
Bionik ist nie Imitation
Der Prozess von den ersten Entdeckungen auf dem Gebiet der Bionik hin zum patentierten Produkt kann sechs bis acht Jahre dauern. „Der Vorteil an diesem Vorgehen ist, dass wir etwas völlig Neues entdecken“, sagt Speck. „Der Nachteil: Nichts von dem, was wir finden, ist schutzfähig.“ Entdeckungen sind keine Erfindungen. Doch nur Erfindungen können patentiert werden.
Viel häufiger ist ohnehin der sogenannte Top-down-Approach, bei dem ein Unternehmen mit einer konkreten Fragestellung auf die Forschenden zukommt. Diese befassen sich dann mit Tieren und Pflanzen, die ähnliche Herausforderungen meistern müssen. Die biologischen Vorbilder zu analysieren, Umsetzungsmöglichkeiten zu prüfen und schließlich ein Patent anzumelden dauert zwei bis vier Jahre.
Bionik ist nie Imitation
In jedem Fall gilt: „Bionik ist nie Imitation, sondern immer ein Neuerfinden, inspiriert von der Natur“, betont der Biophysiker. Dafür müsse eine ganze Menge Abstraktion geleistet werden. Fast immer bestehe das Endprodukt aus einem völlig anderen Material – was nicht heißen muss, dass dieses Material nicht natürlichen Ursprungs sein kann. „Vor allem im Bereich der Architektur sind biobasierte Materialien wegen der Ökobilanz von zunehmendem Interesse“, sagt Speck.
Nicht mit Nachhaltigkeit gleichzusetzen
Dabei dürfe man Bionik nicht mit Nachhaltigkeit gleichsetzen, betont der Forscher. „Die Natur selbst ist nicht nachhaltig. Nachhaltigkeit ist ein menschengemachtes, zukunftsgerichtetes Konzept, und so funktioniert die Evolution nicht“, erläutert Speck. Trotzdem könne man von der Natur für die Nachhaltigkeit etwas lernen: „Es ist ein großer Evolutionsvorteil, ausreichend gute Lösungen mit möglichst wenig Material und Energieaufwand zu produzieren.“
Das gilt auch für sogenannte Soft Robots, Roboter ohne harte metallische Gliedmaßen, die Specks Team entwickelt. Zwei aktuelle Modelle imitieren die Bewegungsmuster von Schildkröten und Insekten. Wie bei Regenwürmern, Spinnenbeinen und vielen Pflanzen funktionieren ihre Bewegungen mit Druckausgleich – was in der Natur meist hydraulisch geregelt ist, haben die Forscher mit Luftdruck umgesetzt. Eine komplexe elektronische Steuerung ist damit überflüssig, fehlende Gelenke machen die Roboter besonders wartungsarm.
Eines der Modelle, das sich wegen seiner biegsamen Beschaffenheit in engste Ritzen quetschen kann und zum Beispiel bei der Suche nach Erdbebenopfern eingesetzt werden könnte, lässt sich mit einem 3‑D-Drucker für gerade einmal 7 Euro produzieren. Pneumatische Roboter funktionieren im Gegensatz zu elektronischem Equipment auch in Gebieten mit hoher elektromagnetischer Strahlung. Und: Wenn Soft Robots in Zukunft in der Industrie zum Einsatz kommen, müssen sie nicht wie herkömmliche Roboter eingehaust werden, um tödliche Unfälle zu vermeiden.