- Trinkgeld wird heute auch an ungewöhnlichen Orten erwartet und digitales Trinkgeld ist an der Tagesordnung.
- In den USA fĂŒhrt die Corona-Pandemie zu einem Trend zu deutlich höheren TrinkgeldbetrĂ€gen.
- Deutschland ist ein Bargeld-Land, aber der Anteil an Kartenzahlungen wÀchst, was die Eingabe von Trinkgeld erleichtert.
- Das automatische Erinnern an Trinkgeldzahlungen kann zu einem höheren Stressniveau bei den Kunden fĂŒhren.
- Die Vorgabe von Trinkgeldhöhen in digitalen Zahlungssystemen kann Kunden zu ungewollten und höheren Trinkgeldzahlungen verleiten.
Es war einmal in Deutschland: ein simples âStimmt soâ oder âDer Rest ist fĂŒr Sieâ. Das sagten viele frĂŒher gönnerhaft bei der Barzahlung und gaben der Kellnerin oder dem Kellner ein Trinkgeld, das den Betrag oft nur ein wenig aufrundete. Heute, in Zeiten digitalen Bezahlens, ist das anders. War Trinkgeld hierzulande frĂŒher nur in Restaurants oder bei Dienstleistungen wie Friseur, FuĂpflege oder Taxifahrt ĂŒblich, so wird man heute auch an Orten aufgefordert, ein sogenanntes Tip zu geben, an denen das bislang nicht normal war.
Trinkgeld in Corona-Pandemie
In einer Luxuskonditorei am KurfĂŒrstendamm in Berlin zum Beispiel sind die knallig blau unterlegten Optionen auf dem Touch-Display â7 %â, â10 %â und â20 %â. Erst bei genauem Hinsehen erkennt man, dass es auch âFreie Eingabeâ und âKein Trinkgeldâ als Option gĂ€be. Am hippen Hamburger-Stand, nicht weit entfernt, kommuniziert das KartengerĂ€t nur auf Englisch: â0 %â, â10 %â, â15 %â, â20 %â, â25 %â sind als Tip möglich. 25 Prozent? Beim bloĂ ĂŒber die Theke gereichten Double Cheeseburger fĂŒr 9,50 Euro sind das satte 2,38 Euro. In den USA ist es oft so, dass viele Restaurants ihren Angestellten weniger als den Mindestlohn zahlen, weil sie davon ausgehen, dass Trinkgeld-Einnahmen die Differenz locker wettmachen. US-Forschende fĂŒhren den in Amerika aktuellen Trend zu viel höheren BetrĂ€gen beim sogenannten Tippen (âTipflationâ) unter anderem auf Corona zurĂŒck. Demnach zeigten sich Verbraucherinnen und Verbraucher in der Anfangszeit der Pandemie generöser, um Lieferdienste, Restaurants und andere hart getroffene Unternehmen zu unterstĂŒtzen. Das verselbststĂ€ndigte sich dann.
Wird Verhalten der Kunden manipuliert?
Doch warum hat sich auch in Deutschland die Trinkgeldkultur so verĂ€ndert in jĂŒngster Zeit? Wieso wird man um ein Tip gebeten, wenn es eigentlich Selbstbedienung ist? Vorbei scheint jedenfalls die Zeit von Trinkgeld-Bechern an der Kasse, die leicht zu ignorieren waren. Wenn Bezahlende nun öfter per Touchscreen Trinkgeld geben sollen, fĂŒhlen sich in Deutschland viele geradezu genötigt, eine hohe Summe zu geben. Wirtschaftswissenschaftler wie Christian Traxler von der Berliner Hertie School nennen das âNudgingâ (englisch fĂŒr âanstupsenâ). Das Verhalten der Kundinnen und Kunden werde gelenkt, gar manipuliert, sagt der Verhaltensökonom. Deutschland ist nach wie vor Bargeld-Land. âEs wird oft nicht nur kommuniziert, dass ein Trinkgeld erwartet wird, sondern auch, in welchem Rahmen es als angemessen angesehen wĂŒrdeâ, sagt Traxler. Wenn programmierte Werte aber sehr hoch sind (fĂŒr viele vielleicht sogar unverschĂ€mt hoch), fallen zwar einzelne Tips tendenziell höher aus, gleichzeitig aber sinke die Zahl der Leute, die ĂŒberhaupt Trinkgeld geben. Ein Drahtseilakt, da Kundinnen und Kunden angestupst, aber nicht verprellt werden sollen.
Unbezahlbar
Der Wirtschaftswissenschaftler Sascha Hoffmann von der Hochschule Fresenius in Hamburg sagt, der technische Kniff, beim Bezahlvorgang am KartenlesegerĂ€t an die Gabe eines Trinkgelds zu erinnern, sei fĂŒr ServicekrĂ€fte und Gastronomen extrem hilfreich. Hoffmann hat zu Trinkgeldhöhen geforscht. Er weiĂ, dass Deutschland im Vergleich nach wie vor ein Bargeld-Land ist, doch der Anteil an Karten- und Smartphone-BezahlvorgĂ€ngen wachse.
Trinkgeld geben kann in Stress ausarten
âStudien zeigen, dass bei Kartenzahlung im GroĂen und Ganzen weniger Trinkgeld gegeben wirdâ, sagt Hoffmann. âDas wirkt sich unmittelbar negativ auf die Verdienstmöglichkeiten von Mitarbeitenden in der Gastronomie und anderen Dienstleistungsberufen aus. Die StundensĂ€tze sind dort ohnehin nicht besonders hoch und die Angestellten sind besonders auf Trinkgelder als zusĂ€tzliche Einkommensquelle angewiesen.â Falle das Tip weg, werden die Branchen laut Hoffmann womöglich noch unattraktiver, was den ArbeitskrĂ€ftemangel in Serviceberufen weiter verschĂ€rfen könne (speziell in der Gastronomie).
Ködern: Decoy Effect könnte zuschlagen
Schon immer war es fĂŒr viele Kundinnen und Kunden Stress, vor den Augen einer Servicekraft und gegebenenfalls weiterer GĂ€ste eine gut gerundete Trinkgeldhöhe auszurechnen. Neben Kopfrechenproblemen kĂ€men soziale Normen ins Spiel, da sich die meisten ârichtig verhaltenâ und nicht als knauserig wahrgenommen werden wollten. Die vermeintliche Hilfe der Kartenlesesysteme, die nun auch in Branchen zum Zuge kommen, in denen Trinkgeldgeben bislang unĂŒblich war (beispielsweise in BĂ€ckereien), könne jedoch problematisch sein, betont Hoffmann. âInsgesamt ist die Gefahr groĂ, dass Kunden durch die Vorgabe von Trinkgeldhöhen zu einem Verhalten verleitet werden, das sie gar nicht wollen. HeiĂt: Sie sehen die Vorgaben in der akuten Entscheidungssituation zwar vielleicht als entlastend an, Ă€rgern sich aber im Nachhinein, dass sie zu viel Trinkgeld gegeben haben.â Wenn statt beispielsweise 5, 10 und 15 Prozent gleich 10, 15 und 20 Prozent als Optionen im Raum stehen, könne ĂŒber den aus der Psychologie bekannten âHang zur Mitteâ eine ĂŒberhöhte Trinkgeldgabe ausgelöst werden. Auch der Decoy Effect (Köder-Effekt) könne zuschlagen. Wird eine Trinkgeldhöhe absichtlich absurd hoch angesetzt, dann wirken die anderen VorschlĂ€ge, die eigentlich ebenfalls zu hoch sind, plötzlich angemessen. Die meisten Tip-Probleme rĂŒhren aber wohl von der sozialen Norm her, dass ĂŒber Geld und damit auch die Höhe des Trinkgelds nicht offen gesprochen wird – schon gar nicht, wenn man als Geizhals gelten könnte.